Über den Autor
Co-Autoren
Arozo Ahmadi, Silke Hersey, Istabrak Dörsam, Helmut Stark, Ludger Keilig
Untersuchung des biomechanischen Verhaltens der Gerüstmaterialien PEKK, CoCr und Titan im All-on-4-Konzept im Oberkiefer
Thema
Einleitung
Für zahnlose Patienten bietet implantatgetragener Zahnersatz eine Möglichkeit zur adäquaten prothetischen Versorgung. Im Unterkiefer ist das „All-On-4“-Konzept ein etabliertes und wohl-dokumentiertes Protokoll [1,2], während das gleiche Konzept im Oberkiefer nur durch eine geringe Zahl von Studien untersucht wurde. Einflussgrößen, wie die vorhandene Knochenqualität und die anatomische Situation, liefern einen Rahmen für die Anzahl und Position der Implantate in solch einer Brückenkonstruktion, dennoch hat der Behandler bei diesen Parametern einigen Entscheidungsspielraum. Dabei haben Anzahl und Position der Implantate einen entscheidenden Einfluss auf die biomechanische Lastübertragung von der prothetischen Versorgung in den umgebenden Alveolarknochen. Insbesondere bei Sofortbelastung kommt der Steifigkeit des Gerüstmaterials aber auch eine besondere Bedeutung zu. Dies gilt vor allem für neue Gerüstmaterialien, wie Hochleistungspolymere (HPP, z.B. PEEK – Polyetheretherketon oder PEKK - Polyetherketonketon) [3,4].
Ziel dieser Studie war es, das biomechanische Verhalten des All-on-4-Konzepts im Oberkiefer in Abhängigkeit von der Implantatpositionierung mit numerischen Methoden zu untersuchen und dieses Verhalten bei unterschiedlichen Gerüstmaterialien zu vergleichen.
Material und Methoden
Auf Basis eines CT-Scans wurde das Finite-Elemente(FE)-Modell eines zahnlosen Oberkiefers erstellt (Mimics Innovation Suite, Materialise, Belgium, siehe Abbildung 1). Die Oberfläche der Mukosa wurde mit Hilfe eines Modellscans des gleichen Patienten rekonstruiert und mit dem Knochenmodell zusammengefügt. Vier Implantate (tioLogic®, Länge 13 mm, Durchmesser 4,2 mm, Dentaurum) wurden aus CAD-Daten modelliert und entsprechend des All-on-4-Konzepts positioniert: zwei auf Höhe der oberen seitlichen Schneidezähne und zwei im Bereich der oberen zweiten Prämolaren. Jedes Implantat wurde mit einem idealisierten Abutment verbunden. Auf Basis der Oberflächendaten dieser Situation wurde durch einen Zahntechniker ein Brückengerüst konstruiert, das speziell für den Einsatz in Verbindung mit einem HPP entworfen war. Die CAD-Daten der Brücke (bestehend aus Gerüst und Verblendung) wurden in das Patientenmodell mit Implantaten und Abutments integriert. Danach wurden alle Komponenten in ein FE-Paket (MSC.Marc/Mentat, MSC.Software, CA, USA) zur Erstellung des Simulationsmodells importiert.
Die Belastung erfolgte über einzelne Belastungsstempel direkt auf jeden individuellen Zahn (vergl. Abbildung 2), um eine Belastung möglichst nah an der klinischen Situation zu erreichen [5]. Jeder Zahn wurde separat mit 500 N belastet. Materialparameter für die biologischen Gewebe wurden der Literatur entnommen [4]. Für die Gerüstmaterialien wurden drei verschiedene Varianten modelliert: das HPP PEKK, eine Titanlegierung sowie CoCr, die Materialparameter sind in Tabelle 1 aufgelistet. Alle Simulationen wurden sowohl unter der Annahme einer Sofortbelastung (sogenannter ‚sliding contact‘ zwischen Knochen und Implantat) als auch unter Annahme der Osseointegration (‚fixed bone implant interface‘) durchgeführt.
Ergebnisse
Abbildung 3 zeigt als Beispiel die berechnete Spannungsverteilung bei einem CoCr-Gerüst in farbig kodierter Darstellung. Im linken Bild, das das Gesamtmodell zeigt, ist zu erkennen, dass die Spannungen insbesondere direkt um den belasteten Zahn konzentriert sind. Die rechten Teilbilder des Knochens und des Gerüsts ohne Verblendung verdeutlichen, dass die Belastung aber über das Gerüst auf alle 4 Implantate verteilt wird. Die höchste Spannung ist zwar auch direkt unter dem Kraftangriffspunkt lokalisiert, jedoch zeigt der Knochen um alle 4 Implantate eine erhöhte Spannung. Das Gerüst zeigt eine großflächige Spannungsverteilung um die Belastungsstelle herum.
In Abbildung 4 sind die Spannungen im CoCr-Gerüst bei variierenden Kraftangriffspunkten gezeigt. Die Belastungspunkte sind mit den Kreisen markiert, die Pfeile zeigen auf Nebenmaxima der Spannungsverteilung. Die Spannungsverteilungen waren für alle 3 untersuchten Materialien sehr ähnlich, wenn auch die Höhe der Maximalwerte aufgrund der unterschiedlichen Elastizitätsmoduln variierten. Die Belastungsgrenze der verwendeten Materialien wurde bei keinem Gerüst erreicht oder gar überschritten, weder bei CoCr, Ti oder beim HPP.
Abbildung 5 stellt die berechneten Auslenkungen der Brücke unter Belastung farbig kodiert dar. Die Abbildung ermöglicht zum einen den Vergleich zwischen der sehr starren CoCr-Brücke und dem flexibleren HPP-Gerüstmaterial. Zum anderen ist der Einfluss des Belastungspunktes zu erkennen. Die obere Reihe zeigt die Position des Kraftangriffspunktes am Molaren, über den Eckzahn bis zum mittleren Schenidezahn (von links nach rechts). Durch den nahezu achsengerechten Kraftangriff am Molaren zeigt sich beim CoCr-Gerüst (mittlere Reihe) eine fast rein translatorische Auslenkung. Diese geht durch einen mehr exzentrischen Kraftangriff bei den anterioren Zähne in eine rotatorische Bewegung über. Dies gilt insbesondere beim Eckzahn, was an den Farbringen zu erkennen ist: Blau kennzeichnet die geringste Belastung, gelb die höchste. Bei dieser Farbverteilung kann sich nur eine rotatorische Bewegung ergeben. Der Effekt ist durch den geringeren E-Modul für das flexible HPP-Gerüst deutlich verstärkt. Die Drehbewegungen am Eck- und Frontzahn sind hier deutlich zu erkennen. Zudem ist die Auslenkung beim HPP-Gerüst deutlich größer. Dieses Deformationsverhalten äußert sich im Gesamtgerüst als Torsion, die sowohl einen Einfluss auf die Spannungsverteilung im Gerüst selber aber auch auf die Verteilung der Belastung über die Implantate in den Knochen hat. Daher ist zu erwarten, dass sich die Spannungsverteilungen im Knochen bei Einsatz der verschiedenen Gerüstmaterialien unterscheiden.
Für eine detaillierte Auswertung der Belastungen im Gerüst und im Knochen um die Implantate wurden aus den Ergebnissen die jeweils 100 höchsten Spannungswerte für das Gerüst und den Knochen extrahiert. Die Verteilung dieser Werte ist in den nachfolgenden Boxplots für jeden einzelnen Kraftangriffspunkt dokumentiert. Damit kann zum einen beurteilt werden, ob sich die Spannungen gleichmäßig und großflächig verteilen und zum anderen können Ausreißer mit Spannungsspitzen erkannt werden. Abbildung 6 zeigt die Spannungen in den drei Gerüstmaterialien bei Sofortbelastung (obere Reihe) und nach Osseointegration (untere Reihe) für das HPP-, CoCr- und Ti-Gerüst (von links nach rechts). Vier wesentliche Erkenntnisse können diesen Diagrammen entnommen werden: 1) Die Spannungen steigen von posterior nach anterior an und die Verteilungen ähneln sich für alle drei Materialien sehr. 2) Die Spannungen im HPP-Gerüst sind im Vergleich zu den Metall-Gerüsten geringfügig, um ca. 25-30 %, niedriger. 3) Die Osseointegration beeinflusst die Spannungen im Gerüst nur minimal. 4) Bei keinem Gerüstmaterial wird die Belastungsgrenze überschritten.
Insbesondere bei Sofortbelastung wurden die im Knochen induzierten Spannungen (siehe Abbildung 7, obere Reihe) dagegen stark durch das Gerüstmaterial beeinflusst und betrugen für das HPP bis über 2.000 MPa, für CoCr maximal 1.000 MPa und für Titan leicht über 1.000 MPa. Dies ist deutlich über der physiologischen Grenze für kortikalen Knochen. Nach Osseointegration (untere Reihe) ist der Unterschied zwischen den Gerüstmaterialien dagegen von untergeordneter Bedeutung. Sowohl die Verteilung der Spannungen als auch die Maximalwerte ähneln sich für alle drei Gerüstmaterialien. Sie sind zudem klar unter der physiologischen Grenze nach Frost von etwa 140 MPa für den Knochen [6].
Diskussion und Schlussfolgerung
Die Simulationsergebnisse zeigen, dass das Gerüstmaterial insbesondere in der Einheilphase einen entscheidenden Einfluss auf die Belastungsverteilung um Dentalimplantate im Knochen hat. Die ermittelten biomechanischen Kenngrößen bei Sofortbelastung erscheinen sehr hoch, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Höhe der aufgebrachten Kraft höher ist als die üblicherweise im Mund der Patienten beobachteten Kräfte. Dennoch muss besondere Sorgfalt darauf gelegt werden, dass ein vollständiges Einheilen der Implantate möglich ist. Nach Osseointegration der Implantate ist zum einen der Einfluss des Gerüstmaterials deutlich reduziert und zum anderen scheinen alle biomechanischen Kenngrößen im physiologischen Bereich.
Laut den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung ergeben sich insgesamt folgende klinische Schlussfolgerungen:
Der Einheilgrad der Implantate spielt eine Schlüsselrolle für die Verteilung der mechanischen Belastungen in den Knochen. Hierbei sollte der osseointegrierte Zustand angestrebt werden, da dieser bei allen drei Gerüstmaterialien eine erhebliche Verbesserung der Spannungswerte auf den belasteten Knochen hat (auf ein Zehntel geringere Belastung im Knochen). Dies widerspricht eigentlich dem Grundsatz des All-on-4-Konzepts, bei der die Versorgung sofortbelastet wird. Bei Sofortbelastung bieten sich aus biomechanischer Sicht für die Belastung im Knochen die starren Gerüstmaterialien als erste Wahl an. Pekkton dagegen verursacht im Vergleich zu Ti- und CoCr-Gerüsten deutlich höhere Spannungen. Für osseointegrierte Implantate ist die Wahl der Gerüstmaterialien weniger bedeutsam, da alle Gerüstmaterialien vergleichbar hohe Spannungswerte zeigten. Aus biomechanischer Sicht erscheint in Bezug auf die Auswirkungen auf den Knochen eine sofortbelastete All-on-4-Versorgung in Verbindung mit allen Gerüstmaterialien, insbesondere aber mit dem HPP-Gerüst, ungünstig, obwohl verschiedene Studien belegen, dass die Implantatüberlebensrate mit sofortbelasteten Versorgungen im Sinne des All-on-4-Konzepts genauso hoch ist [7-9], wie nach Osseointegration. Diese Diskrepanz ist in Zukunft aufzuklären
Betrachtet man die Spannungen im Gerüst, so erweist sich ein HPP als Gerüstmaterial der Wahl. Es ist demnach ein großer Unterschied, welche Komponente der Versorgung betrachtet wird. Hierbei spielt der Einheilgrad eine untergeordnete Rolle, sodass man auch im All-on-4-Konzept HPP als Gerüstmaterial wählen kann. Da jedoch der Einfluss auf den Knochen, wie oben beschrieben, als biomechanisch ungünstig befundet wurde, ist insgesamt den starren Gerüstmaterialien der Vorzug zu geben.
Bildergalerie (9)
Literatur:
1 Maló et al., Clin Implant Dent Relat Res 5: 2–9, 2003.
2 Maló and Rangert, Clin Implant Dent Relat Res. 7: s88-s94, 2005.
3 Kurtz, Devine, Biomaterials, 28: 4845-4869, 2007.
4 Keilig et al., Int J Prosthodont 30: 595–597, 2016.
5 Rand et al., Comp Meth Biomech Biomed Eng 20: 1132–1139, 2017.
6 Frost, Bone Miner 2: 73-85, 1987.
7 Babbush et al., J Oral Implantol 37: 431-445, 2011.
8 Di et al., Chin J Stomat 45: 357-362, 2010.
9 Soto-Penaloza et al., J Clin Exp Dent 9: 474-488, 2017.
Zusammenfassung:
In dieser Studie wurde mithilfe der Finite-Elemente-Methode das biomechanische Verhalten verschiedener Gerüstmaterialien im Sinne des All-on-4-Konzepts untersucht. Hierfür wurde ein FE-Modell eines zahnlosen Oberkiefers erstellt, das mit vier Implantaten versorgt wurde. Die Implantate dienten der Verankerung einer festsitzenden Brücke. Als Gerüstmaterialien kamen ein Hochleistungspolymer (HPP), Titan und CoCr zum Einsatz. Dabei sollten insbesondere die biomechanischen Eigenschaften des Hochleistungspolymers genauer untersucht und mit denen von CoCr sowie Titan verglichen werden, da seine mechanischen und physikalischen Eigenschaften dem des menschlichen Knochens ähneln und demnach bei Belastungen, wie dem physiologischen Kauvorgang, ein stoßabsorbierender Effekt auf den periimplantären Knochen zu erwarten ist.
Die Belastung erfolgte mittels Stempeln an jedem Element der festsitzenden Brücke von 16 bis 26 jeweils einzeln mit einer Kraft von 500 N. Die Einheilgrade osseointegriert und sofortbelastet wurden mit entsprechender Änderung der Kontaktbedingungen zwischen Implantat und Knochen simuliert. Zur Auswertung wurden die Gerüstmaterialien, die Einheilmodi, die Belastungsarten und die belastete Region betrachtet.
Die klinisch relevanten Schlussfolgerungen aus den FE-Ergebnissen befürworten eine Belastung einer implantatprothetischen Versorgung im All-on-4-Konzept mit komplett eingeheilten osseointegrierten Implantaten, da hierbei bei allen Gerüstmaterialien im Knochen Spannungen bis maximal 100 MPa erreicht wurden. Eine sofortbelastete Suprakonstruktion im All-on-4-Konzept zeigte demgegenüber eine zehnfache Belastungssteigerung im Knochen bei der Spannungswerte von 1000 MPa beim CoCr- und Ti-Gerüst erreicht wurden und eine 28-fache Belastungssteigerung mit Spannungswerten bis 2800 MPa beim HPP-Gerüst. Klinisch können diese hohen Spannungswerte zu knochenatrophierenden Prozessen in Folge pathologischer Überlastung führen.
Abschließend ist anzumerken, dass HPP aufgrund dieser Ergebnisse zu den biomechanischen Eigenschaften insbesondere im Rahmen einer Sofortbelastung als Gerüstmaterial in der Implantatprothetik nicht, im Bereich der Teilprothetik für nachfolgende Studien als Gerüstmaterial jedoch empfohlen werden kann.